Tag der Wohnungslosen

Mitten in Recklinghausens Altstadt liegt das Gasthaus.
Mitten in Recklinghausens Altstadt liegt das Gasthaus.

„Fliehe weit und schnell“ –  auf diesen Rat des antiken Mediziners Galen griffen im Mittelalter Ärzte beim Ausbruch der Pest zurück und rieten den Menschen zur Flucht: „Fliehe weit und schnell und kehre erst spät wieder zurück.“  Allerdings erwies sich eine solche Fluchtempfehlung in moralischer und gesellschaftspolitischer Hinsicht auch als problematisch: Manche Städte forderten ihre Beamten, Schreiber, Notare und Ärzte zur Rückkehr auf, um die Ordnung und die medizinische Versorgung der Bevölkerung aufrecht erhalten zu können.

„Mache einen Bogen um andere Menschen, halte Abstand!“: Das ist heute angesagt, um eine Ansteckung mit Covid 19 zu verhindern. Dass die meisten Menschen Abstand zu ihnen halten, kennen Wohnungslose auch unabhängig von Corona-Zeiten. Der Tag der Wohnungslosen, jährlich am 11. September, will darauf aufmerksam machen, dass Wohnungslose das ganze Jahr über am Rande der Gesellschaft leben und sie oft genug ausgegrenzt werden.

Wohnungslosigkeit, Armut und Not lösen offensichtlich so etwas wie eine Abwehrreaktion aus. Eine Abwehr, die sich entweder in Form von „Flucht“ äußert (einen Bogen machen) oder sogar in Form von Aggression. So berichten fast alle wohnungslosen Gäste des Gasthauses, die regelmäßig draußen übernachten, dass sie schon beschimpft, angespuckt oder getreten worden sind.

Susanne (Name geändert), die manchmal in der SB Stelle einer Bank übernachtet, wurde dort im Schlaf mit menschlichem Kot beschmiert. Hannes erzählt, dass er mit einigen Kumpeln auf einem kleinen Platz in Recklinghausen regelmäßig sein Bier getrunken hat. Sie  haben nichts Schlimmes gemacht, erzählt er: Nur geredet und getrunken. Schon lange vor Corona wurden sie dort beschimpft und verjagt; sie würden das Stadtbild verschandeln. „Wie kann denn ein Mensch“, hat Hannes mich empört gefragt, „wie kann denn ein Mensch das Stadtbild verschandeln?“ Derselbe Hannes hat mir einmal gesagt, dass er sich am meisten von anderen Menschen wünscht, dass sie nicht mehr auf ihn herabschauen, oder ihm aus dem Weg gehen, so als sei er gar nicht existent.

Vielleicht wirken Wohnungslose auf manche Menschen wie ein Negativ-Spiegel, in dem sie damit konfrontiert werden, dass Wohnung, Wohlstand, Lebensumstände und Arbeitsstelle nicht sicher sind - genauso wenig wie Gesundheit sicher ist (was uns die Corona Situation ja gerade deutlich vor Augen führt). Das kann Angst machen und den Wunsch auslösen, den Blick in einen solchen Spiegel lieber zu vermeiden.

Demgegenüber lässt sich das Thema Wohnungslosigkeit auch als Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse begreifen: Ein Spiegel, der uns zeigt, wie weit die Schere zwischen Arm und Reich auseinander geht; wie verfahren die Situation auf dem Wohnungsmarkt ist; welche Folgen die langjährige Vernachlässigung des sozialen Wohnungsbaus nach sich zieht. Die zunehmende Zahl obdachloser osteuropäischer EU Bürger spiegelt die Doppelmoral der Gesellschaft wider: Während die Arbeit der Osteuropäer in der Fleischindustrie und in der Ernte gebraucht wird und die deutsche Wirtschaft davon profitiert, werden die Probleme dieser Mitbürger ignoriert und abgewehrt.

Den eben zitierten Hannes haben wir in einem Oktober, zu den Recklinghäuser Lichterwochen, mit einem Fotoapparat ausgestattet und ihn gebeten, Fotos zum Thema Licht und Schatten zu machen. Zum Thema Schatten hat er den leeren Bahnhofsvorplatz fotografiert – und zum Thema Licht den gleichen Platz gefüllt mit Menschen: Pendler, Jugendliche, Erwachsene, Wohnungslose, Drogensüchtige … Diesen Blick auf Menschen könnten wir am Tag der Wohnungslosen – und besonders auch in Corona Zeiten – von ihm lernen: Menschen, auch Wohnungslose und Drogenkranke  nicht als „Problemfälle“ zu sehen, Menschen nicht in erster Linie als mögliche Gefahrenquelle zu sehen, sondern wahrzunehmen, dass jeder Mensch eine Bereicherung ist und unserer Stadt und unserem Zusammenleben Licht gibt.

Sr. Judith Kohorst, Recklinghausen

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